Hat Schwarz-Grün Interesse an demokratischer Teilhabe?

In vielen hessischen Gemeinden gibt es schon seit Längerem demokratisch gewählte Ausländerbeiräte (im Folgenden als ALB bezeichnet) und das ist gut so. Denn wir haben in Deutschland und in Hessen schon seit Langem Einwanderung und eine multikulturelle Gesellschaft. Lange wurden die Migranten nur als Gäste angesehen und daher in der Kommunalpolitik oft nicht adäquat berücksichtigt. Aber verschiedene Aspekte sind speziell für die Lebenssituation von Einwanderern wichtig, z. B. Antidiskriminierung, Bildung, Arbeitssituation, interkulturelle Dialoge und vieles mehr. Daher brauchen Migranten Gehör und Respekt. Aber nicht nur das, sie brauchen auch Mitbestimmung, Teilhabe und Rechte. Demokratische Beteiligung ist eines der wichtigsten Mittel, um Zugehörigkeitsgefühle und die Bereitschaft zu schaffen, auch Verantwortung für die Kommune und das gesellschaftliche Miteinander zu übernehmen.

Wir halten die Ausländerbeiräte in Hessen für eine wichtige Errungenschaft auf dem Weg zu einem Kommunalwahlrecht für alle. Aber nun plant Schwarz-Grün, die Rechte der Migranten auf demokratische Teilhabe wieder zurückzuschrauben: Die Landtagsabgeordnete der Grünen, Eva Goldbach, hat eine Initiative gestartet, die auf die Abschaffung vieler Ausländerbeiräte hinauslaufen kann. Sie hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der am 11. Dezember im Landtag diskutiert worden ist.[1] Viele Punkte in dem Gesetzentwurf sind sinnvoll, allerdings gibt es einen, den wir kritisieren, nämlich auf Seite 1 (betrifft § 84 HGO):

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Das heißt konkret, dass Kommunen, die bisher gesetzlich verpflichtet sind, einen Ausländerbeirat demokratisch wählen zu lassen und ihn entsprechend zu unterstützen, jetzt das Recht bekommen, stattdessen nur eine nicht gewählte Kommission einzurichten, deren Mitglieder aus Vertretern der Gemeinde und weiteren Bürgern bestehen würden. Diese würden von der Gemeinde bestimmt, mit welchem Verfahren auch immer. Weitere Mitglieder sollen von verschiedenen Interessensvereinigungen der Ausländer vorgeschlagen werden. Welche Vereinigungen das sind und wie die Auswahl deren Vertreter zustande kommt, ist unklar.[2] Vorbei wäre es mit direkten Wahlen und Mitbestimmung!

Die Einrichtung von Kommissionen ist in HGO § 72 geregelt.[3] Eine Kommission würde viel seltener tagen als ein Ausländerbeirat, wäre nicht direkt gewählt und würde dem Oberbürgermeister unterstehen. Wie sie zusammengesetzt wird, ist intransparent und hängt im Wesentlichen von den Entscheidungen des Magistrats ab. Es wäre eine machtlose Diskussionsgruppe.

Die Kommission wäre außerdem viel kostengünstiger. Welche Gemeinde will nicht sparen? Da würde es sich anbieten, durch Verzicht auf den Ausländerbeirat nicht nur unbequeme Stimmen zum Verstummen zu bringen, sondern auch gleich noch Kosten zu reduzieren. Es gibt ja auch hessische Kommunen, die unter dem Schutzschirm stehen.[4] Diese Kommunen müssen mit dem Land finanzielle Konsolidierungsmaßnahmen vereinbaren, um ihren Haushalt genehmigt zu bekommen. Dadurch entsteht noch mal Druck zu Sparmaßnahmen.[5] Die Stadt Offenbach wäre von solchem Druck betroffen, entsprechend hat die Piratenpartei Offenbach gegen den Gesetzentwurf protestiert.[6]

Schwarz-Grün rechtfertigt den Gesetzentwurf damit, dass bei der letzten Ausländerbeiratswahl die Wahlbeteiligung zu schlecht war und im Vergleich zu früher noch weiter gesunken ist. In mehreren Gemeinden ist mangels Wahlvorschlägen keine Wahl zustande gekommen. Damit es überhaupt eine Interessenvertretung gibt, sollen wenigstens die Kommissionen eingerichtet werden. Diese Notlösung beanstanden wir auch nicht, aber dafür brauchen die Kommunen nicht auch noch das Recht, von vornherein auf Ausländerbeiräte zu verzichten. Ein solcher Verzicht wäre ganz anders motiviert, z. B. als Sparmaßnahme oder als Reaktion auf lästige Forderungen eines ALB. Ein ALB wäre damit auch erpressbar: Wenn er zu unbequem wird, wird er abgeschafft.

Tatsächlich ist es auffällig, dass die Wahlbeteiligung im Laufe der Jahre immer mehr gesunken ist. 1987 lag sie z. B. in Offenbach bei 26%, 2015 nur noch bei 2,1% der Wahlberechtigten.[7] Vermutlich steckt eine große Enttäuschung dahinter.

Eine weitere Motivation für diese Gesetzesänderung könnte sein, dass die ALB nach Nationalitäten anders zusammengesetzt sind, als es der Bevölkerungsstruktur entspricht. Dieses spricht der CDU-Abgeordnete Alexander Bauer offen in der Plenardebatte im Hessischen Landtag aus.[8] Auch die Grünen nehmen dieses Argument als Rechtfertigung in einem Brief, den sie an ihre Basis geschrieben haben.[9] Die derzeit schlechte Repräsentation liegt vermutlich daran, dass die verschiedenen Nationalitäten sehr unterschiedlich aktiv und motiviert waren, was Aufstellungen und Wahlwerbung angeht.

Die Gründe für den Rückgang der Wahlbeteiligung und die nicht adäquate Repräsentation sind vielschichtig. Schwarz-Grün zieht den Schluss, es dann sein zu lassen mit der demokratischen Mitbestimmung. Wir PIRATEN denken stattdessen, wir sollten die Gründe für den Rückgang der Wahlbeteiligung untersuchen und daran arbeiten, daraus Reformvorschläge zu entwickeln. Wir sehen folgende Ansätze für Verbesserungen:

  • Eine öffentlich sichtbare Wertschätzung des ALB durch den Magistrat, die Stadtverordneten und die kommunale Gesellschaft
  • Transparenz der Zusammenarbeit
  • Werbung und Infokampagnen für die Wahlen und Partizipationsmöglichkeiten von Migranten, auch durch Wahlwerbung der Parteien
  • Eine bessere finanzielle und logistische Ausstattung, die es dem ALB erlaubt, seine kontinuierliche und professionelle Arbeit auszubauen
  • Mehr Beteiligung des ALB in Gremien und in Kommissionen
  • Stimmberechtigung der Mitglieder des ALB in Ausschüssen der Gemeindevertretung
  • Erleichterung der Einrichtung von Beiräten in kleinen Kommunen
  • Unterstützung für das Ziel des Kommunalwahlrechts für alle
  • Mehr Wahlkampfhilfe für die an der Wahl Beteiligten

Auch der Landesausländerbeirat stellt ähnliche Forderungen auf.[10]

Wir PIRATEN sind für Demokratie, Mitbestimmung und Integration. Dazu gehört, dass sich alle Mitbürger an der Demokratie beteiligen können, auch die Zugewanderten.

Dies steht auch in unserem Grundsatzprogramm:[11]

„Wir PIRATEN streben eine möglichst hohe demokratische Gleichberechtigung aller Menschen an. Deswegen ist es Ziel der Piratenpartei, die direkten und indirekten demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten jedes Einzelnen zu steigern und die Partizipation jedes einzelnen Mitbürgers an der Demokratie zu fördern.“

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Wir sind außerdem für ein kommunales Wahlrecht für alle, einschließlich auch für Nicht-EU-Bürger. In unserem Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2017 steht:[12]

Wahlrecht und Bürgerbeteiligung für alle Menschen

Das Wahlrecht ist ein wichtiges Teilhaberecht. Wir PIRATEN setzen uns für das gleiche kommunale Wahlrecht für Nicht-EU-Bürger wie für EU-Bürger ein, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Auch die Beteiligung an weiteren politischen Prozessen, zum Beispiel Volksbegehren, -initiativen und -entscheiden, sowie das Einbringen und Unterzeichnen von Petitionen, soll unabhängig von der Staatsangehörigkeit möglich sein.

Stärkung der Interessenvertretung aller Menschen

Solange Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, setzen wir uns für die Stärkung von demokratisch gewählten, mit ausreichenden Ressourcen ausgestatteten Kommunalen Ausländervertretungen zur Artikulation der eigenen Interessen ein. Auch die Ausländerbeiräte und Integrationsbeiräte auf allen Ebenen sollen als Interessenvertretung finanziell und personell gestärkt werden.

Daher fordern wir alle Abgeordneten im Hessischen Landtag auf, den Gesetzesentwurf abzulehnen und stattdessen die demokratische Mitbestimmung aller Mitbürger zu fördern.


Auch in vielen Hessischen Gemeinden gab es inzwischen gewählte Ausländerbeiräte. Am 20.05.1992 beschloss die Hessische Landesregierung, die Beiräte für alle Gemeinden mit mehr als 1000 Einwohnern verpflichtend zu machen (§§ 84 bis 88 Hessischen Gemeindeordnung).

Auf dem Weg zur echten demokratischen Mitbestimmung hatte sich schon einiges entwickelt. 1971 entstand z.B. in der Stadt Offenbach, die traditionell schon immer eine Einwanderungsstadt war, eine „Vertreterversammlung sachkundiger ausländischer Arbeitnehmer“, die allerdings keine Handlungskompetenzen hatte. [13] 1973 richtete die Stadt einen „Koordinierungskreis ausländische Arbeitnehmer“ ein. Die Mitglieder wurden von verschiedenen Organisation nach bestimmenten Kriterien ausgesucht und benannt, sie sollten den Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung zur Integration beraten. Um die Effizienz zu erhöhen, wurde er 1984 ersetzt durch einen „Ausländerbeirat“, dessen Mitglieder teils von den ausländischen Mitbürgern gewählt wurden, und der damit eine demokratische Legitimierung hatte und die Integration von Ausländern auf kommunaler Ebene institutionell absicherte. Seit 1987 gibt es einen Ausländerbeirat, dessen Mitglieder zu 100 Prozent von den ausländischen Mitbürgern gewählt werden.

Weitere Informationen zu Rechten und Pflichten des Ausländerbeirats finden sich hier [14]

Ich danke zahlreichen Piraten für das Gegenlesen dieses Beitrags und viele hilfreiche Anmerkungen.

Beitragsbild: Annette Schaper-Herget (CC BY 4.0)